Sind 1,20 Meter groß oder klein? So in den Raum gestellt, ist dies eine unmögliche, weil zu unbestimmte Frage. Für die Schulterhöhe eines Hundes ist es groß, für den Pegelstand der Elbe in Dresden klein. Ebenso verhält es sich mit der Frage: Was ist gute Politik? Was Politik ist, darauf können wir uns vielleicht noch einigen. Doch wann ist sie gut? Wann ist sie groß?
Politik berührt unweigerlich die grundsätzlichen Fragen unseres Zusammenlebens, weil es ihre Aufgabe ist, dieses zu gestalten. Damit kann die Politik den Fragen der Moral nicht entfliehen. Was ist gut, was ist schlecht? Moral ist keine physikalische Gegebenheit, sondern seit jeher Ansichtssache. Ideologien, Religionen und Philosophie haben es zu ihrem Kerngeschäft erklärt, Angebote für das Richtige und das Falsche zu unterbreiten. Die einen sehen es so, die andern so. Man kann seine Ansicht von Gut und Böse erklären, aber beweisen, lässt sie sich nicht. Den Philosophen Immanuel Kant brachte dieser Umstand gar zum „moralischen Gottesbeweis“. Er meinte, dass sich Gott nicht theoretisch beweisen lasse, allerdings moralisch notwendig sei, um feste Regeln zu rechtfertigen: „Die Vernunft [sieht sich] genötigt [, eine Welt unter einem weisen Urheber und Regierer] anzunehmen oder die moralischen Gesetze [sind] als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jede Voraussetzung wegfallen müsste.“ [Kritik der reinen Vernunft – Kanon – 2. Abschnitt]
Zusammenfassend schreibt er: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.“ [Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. – Vorrede]
Die Beobachtungen Kants zeigen uns den scheinbaren Vorteil gefestigter Ideologien und gemeißelter Glaubensgebäude auf: Sie bieten uns diesen moralischen Gesetzgeber, den Urheber und Regierer. Nur wer über einen so endgültig begründeten Glauben verfügt, wird mit Gewissheit, Endgültigkeit und Struktur beschenkt. Wer frei ist von einem solchen Glauben, muss stets im Zweifel leben und die Vorläufigkeit seiner Überzeugungen akzeptieren. Von außen betrachtet aber ist beides ein und dasselbe. Wo jemand meint, seine Überzeugungen endgültig mit den Taten Zeus begründen zu können, kann schon eine Christin nur müde lächeln, hält sie Zeus doch für ein griechisches Märchen. Es spielt in der Praxis keine Rolle, ob wir unsere Überzeugungen aus der Moral, Religion, Tradition, Ideologie oder "dem gesunden Menschenverstand" herleiten. Die einzige Frage, die sich für unsere eigene Haltung zur Politik stellt, ist, was sich in dem Moment für uns richtig anfühlt. Ohne endgültige Beweisbarkeit wird jede moralische und damit auch jede politische Einstellung zu dem, was Kant ein "Hirngespinst" nannte und was ich ein Gefühl nennen würde. Und von einer endgültigen Beweisbarkeit, können immer nur die Gläubigen selbst überzeugt sein, niemals die objektive Beobachterin oder jemand, der an eine andere Sache glaubt.
Wie Kant den lieben Gott, sollten wir in der Bewertung der Politik, die Moral als etwas Gegebenes und -bei uns zu Lande ja sogar wortwörtlich- Wählbares betrachten. Wäre die Moral fest, könnten wir uns viele Diskussionen sparen. So aber muss immer darum gerungen werden, was richtig und falsch ist. Politische Akteure aus der Suffragetten-Bewegung haben viel Energie darauf verwandt die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es falsch ist, Frauen als Bürger zweiter Klasse zu behandeln. Wer die Politik aktiv gestaltet, dem ist daran gelegen, den moralischen Standpunkt der Menschen zu verändern. Ihre Einstellung, ihr Gefühl zu einer Sache zu bewegen. Denn wenn sich dieser Standpunkt ändert, ändert sich das richtig und falsch hinter den politisch veranlassten Maßnahmen. Wo die Unterdrückung der Frau früher als akzeptiertes und sogar notwendiges politisches Unterfangen galt, ist sie heute geächtet und wir schämen uns für die Vergangenheit.
Wenn der moralische Standpunkt wählbar ist, so ist gute Politik schlicht eine Politik, die ihre Moral einlöst und die daran geknüpften Ziele erreicht. Wenn die russische Oligarchie den Standpunkt vertritt, dass sie allein es verdient zu regieren, so ist ihre bestehende alleinige Kontrolle über Russland gut für sie. Ob ich mit diesen Zielen übereinstimme, ist nur für meine Bewertung maßgeblich. So gibt es gute gute Politik und schlechte gute Politik. Das eine ist ein Erfolgskriterium, das andere die eigene moralische Sicht der Dinge.
Wenn wir Politik werten, spannen wir folglich zwei Ebenen auf: Erreicht Politik ihre Ziele und sind die Ziele die Richtigen? Aus diesen Ebenen entspinnt sich mein Bewertungsmaßstab, mein Gütesiegel. Der erste Faktor ist – wie nun dargestellt – frei bestimmbar. Objektiv können wir hier nur auf Gradlinigkeit achten. Die veranlassten Maßnahmen und ausgegebenen Ziele müssen zur beworbenen Moral passen. Auf der zweiten Ebene, der Erfolgsebene, werden die Dinge sachlicher und es ergibt sich eine klar auslesbare politische Geometrie. Herbeigezauberte Illusionen lösen sich auf, wenn die verkündete Moral in konkrete Maßnahmen mit messbaren Ergebnissen übersetzt wird. Wo aus Überzeugungen wirksame Praxis wird, verfliegt der rosige Schleier moralischer Leidenschaft. Hier zeigt sich das Geschick und die Ehrlichkeit der Politik.
Betreten wir die Erfolgsebene, so muss die Politik im ersten Schritt aus ihrem moralischen Standpunkt konkrete Ziele und Maßnahmen ableiten. Eine moralische Verantwortung für kommende Generationen übersetzt sich hier in Umweltschutz und dieser übersetzt sich in ein Gesetz zur Reduktion bestimmter Giftstoffe. Überzeugungen werden Ziele, Ziele werden Maßnahmen. So nimmt Politik konkrete Form an. Jedoch ist Politik weder allmächtig noch findet sie im luftleeren Raum statt. Um also die Qualität der aufgestellten Strategie bewerten zu können, muss vorab der alte Stand der Dinge sowie der Möglichkeitsrahmen erhoben werden. Der alte Stand der Dinge ist hierbei die Menge an Umweltgiften. Der Handlungsrahmen wiederum umfasst die Möglichkeiten und Beschränkungen der handelnden Akteure.
Wir können einer Regierung, die über 60 Prozent der Stimmen im Bundestag verfügt, nicht vorwerfen, dass wünschenswerte Gesetze, die 66 Prozent der Stimmen verlangen, nicht erlassen werden. Wir können es ihr nicht anlasten, wenn unverschuldet Pandemien ausbrechen und sie den Apfel nicht nach oben fallen lässt. Jeder politische Akteur ist in seinen Möglichkeiten begrenzt. Wir können immer nur verlangen, dass im Rahmen des Möglichen alles getan wird, was getan werden kann. Dazu jedoch muss man diesen Rahmen kennen und klar benennen. Wenn deutlich wird, dass die Opposition sich auf das 66 Prozent Gesetz mit ein paar hinnehmbaren Änderungen einlassen würde, wäre es ungeschickt diese Möglichkeit nicht zu ergreifen. Dann bliebe die Regierung unter ihren Möglichkeiten. Auch Zielkonflikte können Möglichkeiten einschränken. Vielleicht ist man für Umweltschutz und materielles Wachstum gleichzeitig. Dann müssen beide Ziele in Einklang miteinander gebracht werden, was die Möglichkeiten in beiden Domänen begrenzen kann.
Es ist aber nicht nur wichtig, die Möglichkeiten der politischen Akteure zu erfassen, um ihnen ein gerechtes Urteil angedeihen zu lassen. Es ist auch deshalb wichtig, weil es uns auf strukturelle Probleme aufmerksam macht. Wenn eine Politik, nicht tun kann, was sie tun sollte, haben wir ein Problem zu lösen.
Soweit vorab. Nun haben wir ein klares Lagebild: Wir kennen unsere Ziele und haben ihnen Maßnahmen zugeordnet. Wir kennen die alte Faktenlage und den alten Möglichkeitsrahmen der Politik. Nun werden die Maßnahmen erlassen und durchgeführt. Nach Durchführung der Maßnahmen wird dann ausgewertet: Neuer Stand der Dinge und neuer Möglichkeitsrahmen.
Spielen wir das einmal durch: Eine Partei ist von Gleichheit überzeugt. Konkret soll dies bedeuten, dass weniger Menschen sehr arm oder sehr reich sind und dafür eine starke Mittelschicht existiert. Die Menschen sollen sich verstärkt um ein durchschnittliches Einkommen und Vermögen herum gruppieren.
Diese Partei gewinnt nun über 50% der Stimmen im Bundestag und Bundesrat und ist somit in die Lage versetzt, Gesetze zu erlassen, die einer einfachen Mehrheit bedürfen. Die Opposition schließt jede Zusammenarbeit aus, weshalb Gesetze abseits davon unmöglich werden. Aufgrund geltender Schuldenregeln muss diese Partei außerdem ihre Gesetze ohne Aufnahme zusätzlicher Kredite planen. Nun setzt diese Partei neue Vermögens- und Erbschaftssteuern ein, hebt die Spitzensteuersätze der Einkommenssteuern an, entlastet Gering- und Mittelverdiener bei der Einkommenssteuer, senkt Mieten, unterstützt beim Vermögensaufbau im mittleren und niedrigen Segment und stärkt die materielle Unterstützung für Auszubildende und Studierende sowie den Sozialstaat. Diese Maßnahmen gleichen sich finanziell gegenseitig aus und sind mit einfacher Mehrheit umzusetzen. Der Stand der Vermögens- und Einkommensverteilung vor den Maßnahmen war bekannt.
Nun liefen diese Maßnahmen ein paar Jahre und die aktualisierte Auswertung zeigt: Tatsächlich gibt es weniger sehr Reiche und weniger Arme dafür aber mehr Leute in der Mitte, deren mittleres Einkommen und Vermögen oben drauf auch noch gestiegen ist. Im Laufe dieser Jahre gab es keine Kriege, keine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse, Krisen oder Pandemien. Das Umfeld, in dem diese Maßnahmen ergriffen wurden, blieb somit weitgehend stabil. Der Möglichkeitsrahmen der Politik veränderte sich nachträglich nicht wesentlich. Wenn die Situation sich darstellt wie beschrieben, dann war die Politik erfolgreich. Sie hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre moralischen Überzeugungen in konkrete Ziele und Maßnahmen übersetzt, die wiederum erfolgreich waren. Ob dieser Erfolg gut oder schlecht ist, muss jeder für sich bestimmen.
Damit sind beide Ebenen geklärt: Die moralische Ebene der Überzeugungen und die Erfolgsebene, auf der die Wirkung und Effektivität der Politik sich zeigt. Wir sehen damit auch, wie ein geordnetes Denken Täuschungen überführt. Von Ideologie und Glauben allein, hat der Mensch schonmal ein warmes Bauchgefühl – für den vollen Magen aber braucht es dann die gelungene politische Tat.
Die entscheidenden Fragen zur Bewertung von Politik: Was finde ich richtig? Was wurde getan und was wird getan, um das Richtige zu erreichen? Was waren und was sind unsere Möglichkeiten? Wo standen wir damals? Wo stehen wir heute? Wer Politik bewertet, sollte anerkennen, dass diese in ihren Ergebnissen von vielen Faktoren und vom eigenen Standpunkt abhängig ist. Wir sollten deshalb ausgewogen und gedanklich gut sortiert in unserer Bewertung sein. Sonst laufen wir Gefahr dem Otter anzulasten, wie schlecht er fliegt.