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Hintergründe zur 4-Tage-Woche

Einleitung


Im September 2023 gab die Industriegewerkschaft Metall bekannt, sich in der kommenden Tarifrunde der Stahlindustrie Nordwest und Ost für eine 32 Stunden Woche einsetzen zu wollen. [1] Mit dieser Forderung soll nicht nur eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitsstunden, sondern auch der Arbeitstage von 5 auf 4 erreicht werden. Hierzu der Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen und Verhandlungsführer Knut Giesler:


"Diese Arbeitszeitverkürzung wäre der Einstieg in die 4-Tage-Woche, die dadurch in vielen Bereichen möglich wird." [2]

Dass die IG Metall damit nicht nur im Sinne ihrer Gewerkschaftsmitglieder handelt, sondern der überwiegenden Mehrheit der Beschäftigten folgt, zeigen Umfragen. Bis zu 81% aller Vollzeitbeschäftigten befürworten in Umfragen eine Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich. [3] Darüber hinaus tritt die IG Metall mit dieser Forderung in ihre eigenen historischen Fußstapfen. Unter dem Motto: „Samstag gehört der Vati mir“, [4] forderte die IG Metall ab 1955 gemeinsam mit anderen Gewerkschaften die Fünf-Tage-Woche. [5] Bis Anfang der 80iger Jahre etablierte sich dieses Modell der fünftägigen und vierzigstündigen Arbeitswoche bei Vollzeitkräften als Standard sowohl in BRD [6] als auch DDR [7]. Dieser Standard konnte sich sowohl im Umfang der Stunden [8] sowie in der Anzahl der Tage als Regelarbeitszeit bis heute und damit etwa 50 Jahre halten.


Aber nicht nur die Rolle der Gewerkschaften bei der Arbeitszeitverkürzung ist historisch. Ebenfalls historisch, ist der wirtschaftlich begründete Widerspruch gegen die Arbeitszeitverkürzung. Der damalige Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt warnte am 1. Mai 1955, im Auftaktjahr der gewerkschaftlichen Kampagne für die 5-Tage-Woche:

„Die westdeutsche Wirtschaft kann sich den Luxus der 40-Stunden-Woche vorläufig nicht leisten. Es ist noch zu früh.” [9]

Auch heute sind ähnliche Warnungen bezüglich einer 4-Tage-Woche im Umlauf. Insbesondere Arbeitgeber und gewisse Ökonomen benennen Arbeitszeitreduktionen als wirtschaftlich schädlich. So meinte der Arbeitgeberverband Stahl als Reaktion auf die oben genannte Forderung der IG Metall:


"Eine pauschale Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden […] entzieht den Unternehmen die [...] dringend benötigte zusätzliche Arbeitskraft." [10]

Und Ökonomen wie Dr. Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft verkünden:


„Wir brauchen eine Ausweitung der individuellen Arbeitszeit im Jahr, nicht den unrealistischen Traum der Vier-Tage-Woche“ [11]

Sicherlich sprechen Ökonomen wie Hüther nicht für alle Ökonomen und Ökonominnen. So befürwortet beispielsweise die amerikanische Ökonomin Juliet Schor eine 4-Tage-Woche [12] und der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher schrieb in der ZEIT:


"Deutschland sollte die Viertagewoche ausprobieren" [13]

Flugs könnte nun also die Frage aufkommen, wer da Recht hat. 4-Tage-Woche gut für Wirtschaft oder 4-Tage-Woche böse für Wirtschaft? Im Zweifelsfall ist das sicherlich eine Frage der Umstände und auch ich werde zu einem späteren Zeitpunkt dazu schreiben. Aber zunächst müssen andere überraschende Fragen geklärt werden, die aufkommen, wenn man sich eingehender mit der Arbeitszeitverkürzung beschäftigt:


Arbeitet der moderne Mensch eher viel oder wenig? Was waren die treibenden Kräfte, die in den letzten zwei Jahrhunderten die Arbeitszeiten in den modernen, mit der Industrialisierung aufkommenden Arbeitsverhältnissen halbierten? [14] Welche Rolle spielten ökonomische Argumente für diese Arbeitszeitverkürzung? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang ein ökonomisches Argument? Ist es wirtschaftlich das Bruttoinlandsprodukt und Profite zu steigern und oder die Ausweitung von Freizeit und die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse allgemein voranzutreiben?


In diesem Beitrag werde ich nicht untersuchen, ob die ökonomische Räson für oder gegen eine Vier-Tage-Woche spricht. Sondern vielmehr, was ökonomische Räson hier überhaupt meint und welche Rolle sie für Arbeitszeitverkürzungen in der Vergangenheit spielte. Ziel dieses Beitrags ist es, einen Hintergrund zu schaffen, vor dem sich über Arbeitszeitverkürzungen infomiert nachdenken und handeln lässt.


Zu Beginn werde ich unsere modernen Arbeitszeiten in die Menschheitsgeschichte einordnen. Anschließend blicke ich darauf was ein „ökonomisches Argument“ ist. Dann gehe ich auf die Geschichte der bestehenden Arbeitszeitreduktionen ein und betrachte dazu die Geschichte des Wochenendes, der Feier- und Urlaubstage, des Acht-Stunden-Arbeitstages und schnüre abschließend alles zu einem handlichen Päckchen Erkenntnisse zusammen.


Eine kurze Geschichte der Arbeitszeit


Beginnen wir unseren Tauchgang in die Geschichte, mit einem Ausschnitt aus dem Buch The overworked American der bereits erwähnten Ökonomin Juliet Schor:


„Einer der beständigsten Mythen des Kapitalismus ist, dass er die menschliche Arbeit reduziert hat. Dieser Mythos wird in der Regel durch einen Vergleich der modernen Vierzig-Stunden-Woche mit ihrem siebzig- oder achtzigstündigen Gegenstück im neunzehnten Jahrhundert verteidigt. Die implizite - aber selten ausgesprochene - Annahme ist, dass sich der Achtzig-Stunden-Standard seit Jahrhunderten durchgesetzt hatte. Der Vergleich beschwört das triste Leben der mittelalterlichen Bauern herauf, die von morgens bis abends schufteten. Wir sollen uns den Handwerksgesellen in einer kalten, feuchten Mansarde vorstellen, der noch vor der Sonne aufsteht und bis spät in die Nacht bei Kerzenlicht arbeitet.


Diese Bilder sind rückwärtsgewandte Projektionen moderner Arbeitsmuster. Und sie sind falsch. Vor dem Kapitalismus arbeiteten die meisten Menschen überhaupt nicht sehr viel. Das Lebenstempo war langsam, sogar gemächlich, das Arbeitstempo entspannt. Unsere Vorfahren waren vielleicht nicht reich, aber sie verfügten über eine Fülle von Freizeit. Als der Kapitalismus ihr Einkommen steigerte, nahm er ihnen auch die Zeit weg. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Arbeitszeiten in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die höchste Arbeitsleistung in der gesamten Menschheitsgeschichte darstellen.“ [15]


Stimmt das? Stellen die modernen Arbeitszeiten tatsächlich eine Spitze im Verlauf der Menschheitsgeschichte dar?


Grenzen des Vergleichs


Erstmal ist festzustellen, dass jeder historische Vergleich von Arbeitszeiten Rosenkohl mit Rotkohl aufwiegt. Wie Sie sich vorstellen können, ist es ein gänzlich anderer Sachverhalt, mit den Stammesgenossen aus nackter Notwendigkeit durch die Wälder zu streifen und Pilze zu sammeln, als zu vertraglich festgelegten Konditionen in der Altenpflege zu arbeiten. Es liegen Welten zwischen dem feudalen bäuerlichen Haushalt, der für den eigenen Verbrauch, für Abgaben und Handel, Pflanzen und Tiere anbaut und einer Schichtarbeiterin, die kurz nach Ladenöffnung aus ihrer Lohntüte ihre Bedarfe im Supermarkt stillt. Wie auch heute bestanden in den historischen Gesellschaften in Punkto Arbeit Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen, es bestanden Unterschiede zwischen den Gesellschaften insgesamt. Und nur, weil früher vielleicht mehr oder weniger gearbeitet wurde, heißt dies noch lange nicht, dass es den Menschen damit besser oder schlechter ging.


Auch ist Arbeit ein schwammiger Begriff. Heute unterteilen wir unseren Tag unter anderem in Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, ehrenamtliche Arbeit und Freizeit. Früher waren die Übergänge hier wohl fließender, Tätigkeiten weniger spezialisiert und die Arbeit gänzlich anders organisiert. Deshalb müsste man, wenn man sich an einem akkuraten Vergleich der Arbeitsstunden versuchen wöllte, exakt nach Tätigkeiten ordnen wie es die Autoren der "The global human day"-Studie [16] taten und dann die historische Stoppuhr scharf schalten. Hierbei träte zudem ein weiteres Phänomen zu Tage: Über den Verlauf der Menschheitsgeschichte, hat sich nicht nur das Wesen der Arbeit, sondern auch das Wesen der Zeit gewandelt - wie wir sie messen, wie wir sie wahrnehmen und einteilen. [17]


Unser moderner Begriff von Arbeitszeit entstand erst im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vorher arbeitete die überwiegende Mehrheit der Menschen in der Landwirtschaft. Sie richteten sich vorrangig nach dem Stand der Sonne, nach Jahreszeiten und Notwendigkeiten. Erst mit Beginn der Industrialisierung trat die Stechuhr ihren Siegeszug an und wurde die Arbeitszeit großflächig in Stunden pro Woche und Tag erfasst. Der Historiker Michael Schneider spricht vom Eintreten eines neuen "Zeitbewusstseins". [18] Die Idee, Arbeit genau nach Stunden zu ordnen, ist vorrangig eine Idee der Moderne.


Was wir folgend zeichnen, ist demnach ein grobkörniges Bild. Doch schon in diesen groben Körnern, blitzen Erkenntnisse auf und wir bekommen eine solide Idee davon, wie wir heute dastehen. Arbeiten wir wenig oder arbeiten wir viel?


Urgeschichte


Blicken wir auf die Geschichte unserer Spezies, so beginnt diese Geschichte vor etwa 300.000 Jahren. [19] Es ist eine Offensichtlichkeit und doch eine Unterstreichung wert, dass wir für den überwiegenden Teil dieser Geschichte, unsere Bedürfnisse weder mittels der Landwirtschaft noch der Industrie stillten. Stattdessen jagten und sammelten wir, was wir brauchten, in der Natur. Mit der heute dominierenden Landwirtschaft begannen wir erst vor etwa 13000 Jahren. [20]


Wenn Anthropologen den damaligen Arbeitszeiten auf die Schliche kommen wollen, beobachten sie Menschengruppen, die bis in jüngste Vergangenheit noch jagten und sammelten. Durch Beobachtungen einer solchen Gruppe namens Agta kamen Anthropologen zu folgendem Ergebnis:

[…] die Agta-Erwachsenen arbeiten im Durchschnitt etwa 24 Stunden pro Woche außerhalb des Lagers und etwa 20 Stunden pro Woche [verbringen sie] mit Hausarbeit […]. [21]

Diese Beobachtung steht nicht allein sondern deckt sich mit einer älteren Studie der Kung!-Gruppe, die durch Marshall Sahlins lesenswerten Text Die erste Wohlstandsgesellschaft von 1966 bekannt geworden ist. [22] In dieser Studie kommt der Antrophologe Richard Lee auf 40 – 44 Stunden für Hausarbeiten, Jagen und Sammeln. [23] Beide Beobachtungen decken sich überdies mit einer Metastudie, die Beobachtungen von acht weiteren Jäger- und Sammlergruppen auswertet. Diese Metastudie kommt auf etwa 45 Stunden. [24]

Trauen wir uns aus diesen Beobachtungen auf unsere Vorfahren zu schließen, kommen wir für den Großteil der Menschheitsgeschichte so auf eine Arbeitszeit von ungefähr 45 Stunden pro Woche. Inklusive Hausarbeit, Kinderversorgung und Bewegung an der frischen Luft. Interessanterweise schlüsseln insbesondere die Autoren der Meta-Studie auf, dass mit den 45 Stunden auch jede Aktivität, die wir heute im engeren Sinne als Sorgearbeit oder arbeitsnahe Tätigkeit verstehen, abgedeckt ist - Kochen, Pendeln, Pflege. [25]


Vor dem Hintergrund, dass der Zeitraum, in dem wir jagten und sammelten ca. 95% unserer Geschichte ausmacht, bin ich nun spitzbübisch geneigt, an dieser Stelle bereits die Beweisaufnahme zu schließen und einen Vergleich zur modernen Arbeitszeit zu ziehen. Aber letztlich haben wir doch, bis auf unsere gesamte biologische Veranlagung, mit den jagenden und sammelnden Nomaden von damals nicht mehr viel gemein. Der moderne Mensch entstand mit der Landwirtschaft und der Sesshaftigkeit, welche zusammen die Grundzüge unserer heutigen Zivilisationen formten. [26] Deshalb blicken wir nun auf die Arbeitszeiten der nächsten dynamischen Phase unserer Wirtschaftsgeschichte.


Beginn des Ackerlandbau und Antike


Ackerbau bedeutete zunächst einen höheren Aufwand. In einer Kritik zu dem Buch Die Mühlen der Zivilisation: eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten von James C. Scott schreibt der britische Archäologe Steven Mithen:


„Wie man es auch dreht und wendet, die Landwirtschaft ist mit einer viel höheren Arbeitsbelastung und mehr körperlichen Beschwerden verbunden, als wenn man sich auf die Wildnis verlässt. Und je mehr wir entdecken, so Scott, desto besser sehen die Ernährung, die Gesundheit und das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben der Jäger und Sammler aus.“ [27]


Auch die bereits erwähnte Studie über die Jäger-Sammler-Gruppe Agta stellte fest, dass Agta, die, statt zu jagen und sammeln, der Landwirtschaft nachgingen, etwa zehn Stunden mehr pro Woche aufwendeten. Der an der Studie beteiligte Anthropologe Mark Dyble gibt zu Protokoll:


"Lange Zeit galt der Übergang von der Nahrungssuche zum Ackerbau als Fortschritt, der es den Menschen ermöglichte, einer mühsamen und prekären Lebensweise zu entkommen. Aber sobald Anthropologen begannen, mit Jägern und Sammlern zu arbeiten, begannen sie, diese Erzählung in Frage zu stellen, und stellten fest, dass Jäger und Sammler tatsächlich viel Freizeit genießen. Unsere Daten sind der bisher deutlichste Beleg für diese Vorstellung.“ [23]


Insgesamt deutet also einiges darauf hin, dass Landwirtschaft in ihren Anfängen beschwerlicher war als das Jagen und Sammeln. Und es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, warum wir daran festhielten. [28] Da wir weder Jagen noch Sammeln, fehlt uns die Zeit, uns mit diesen Auffassungen auseinanderzusetzen. Fakt ist, dass der Ackerbau sich etablierte. Mit der Domestizierung von Tieren und Pflanzen, der Erfindung zahlreicher Werkzeuge und Technologien über die Jahrtausende, wurde die Landwirtschaft ertragreicher und leichter. [28] Im Laufe dieses Prozesses wuchs die Weltbevölkerung von 5 Millionen um 10.000 v.Chr. auf 500 Millionen im 14. Jahrhundert an. [30] Außerdem entstanden komplexere Ökonomien, mit höherer Spezialisierung und neuen Berufen [31]. Die im Schlaglicht dieser Entwicklungen geborenen Zivilisationen ähnelten zunehmend den Unsrigen.


Vor dem Hintergrund der historischen Betrachtung von Arbeitszeiten, können wir diese turbulenten und komplexen Ereignisse gleichwohl mit Abzügen überspringen. Wir können die neu entstehenden Berufsbilder und sich verschachtelnden ökonomischen Strukturen der Prägnanz halber bei Seite schieben. Denn bis weit in das 20. Jahrhundert hinein arbeitete der Großteil der Weltbevölkerung aller Entwicklungen zum Trotz in der Landwirtschaft. [32] Selbst für das Jahr 1991 gibt die Weltbank noch an, dass weltweit 44% der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig waren. [33] Es genügt also für unseren groben Überblick, wenn wir vorrangig auf die Arbeitszeiten und Muster in der Landwirtschaft schauen. Deshalb springen wir nun über die Antike hinweg in die Jahrhunderte vor der industriellen Revolution, in der die nicht-industrialisierte Landwirtschaft ihren Höhepunkt erreichte. Wir landen somit direkt im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert.


Spätes Mittelalter bis Industrialisierung


„[…] Betrachten wir einen typischen Arbeitstag im Mittelalter. Er erstreckte sich von der Morgendämmerung bis zur Abenddämmerung (sechzehn Stunden im Sommer und acht im Winter), aber […] die Arbeit [wurde] unterbrochen - für das Frühstück, das Mittagessen, den üblichen Mittagsschlaf und das Abendessen. Je nach Zeit und Ort gab es auch Erfrischungspausen am Vormittag und am Nachmittag. Diese Ruhezeiten gehörten zu den traditionellen Rechten der Arbeiter, die sie auch während der Haupterntezeiten in Anspruch nahmen. In der arbeitsarmen Zeit, die einen großen Teil des Jahres ausmachte, war die Einhaltung der regulären Arbeitszeiten nicht üblich.


[…] Der mittelalterliche Kalender war voll von Feiertagen. Zu den offiziellen - d. h. kirchlichen - Feiertagen gehörten nicht nur lange "Ferien" zu Weihnachten, Ostern und Mittsommer, sondern auch zahlreiche Heiligen- und Ruhetage.“ [15]


So beschreibt die Ökonomin Juliet Schor die mittelalterlichen Arbeitszeiten. Eine Publikation der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) macht für städtische Arbeiter ähnliche Angaben:


„Mehrere Studien, die sich in erster Linie mit dem Vereinigten Königreich befassen, haben ergeben, dass die städtischen Arbeiter vor der industriellen Revolution zwar ganztägig (d. h. 10-12 Stunden), aber an weitaus weniger Tagen im Jahr gearbeitet haben als später. Vor der Industriellen Revolution arbeiteten die Arbeiter etwa 150-200 Tage pro Jahr.“ [34]


In Summe kommt diese OECD-Studie am unteren Ende auf 1500 Arbeitsstunden pro Jahr und am oberen auf 2400. [44] Auch die erwähnte Ökonomin Juliet Schor macht konkrete Angaben. Für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, nach der Pestwelle, die den Begriff „der schwarze Tod“ prägte, gibt sie 1440 Stunden pro Jahr für Lohnarbeiter an [15]. Damit kommt sie der unteren Grenze der OECD-Studie von 1500 Stunden sehr nah. Sie veranschlagt 150 Arbeitstage für Bauern im 13. Jahrhundert und zu einem späteren Zeitpunkt 180 für Bergarbeiter. Damit liegt sie auch hier im Rahmen der Arbeitstage, die in der OECD-Studie angegeben werden.


Insgesamt sprechen beide Quellen und die ihnen zugrundeliegenden Untersuchungen mit einer Stimme und siedeln die Jahresarbeitszeiten im Gro zwischen 1500 und 2400 Stunden an. Es lässt sich nicht erkennen, dass die normalen Arbeitszeiten zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert darüberhinausgehende halsbrecherische Ausmaße annahmen. Weder in der weithin dominierenden Landwirtschaft noch den anderweitigen Berufen, schien die Regel zu sein, was dann im Zuge der Industrialisierung geschah.


Industrielle Revolution


In der frühen Neuzeit und im Mittelalter waren wir am oberen Ende bei 200 Arbeitstagen. Nun erklimmen diese für Industriearbeiter laut genannter OECD-Studie ungekannte Höhen: “Während der industriellen Revolution stieg diese Zahl auf über 300 Tage pro Jahr.“ Zusätzlich schnellt die Wochenarbeitszeit auf 60 – 80 Stunden hinauf. [34]


Die Webseite Our World In Data geht für das Jahr 1870 von 3,284 Stunden pro Jahr für Fabrikarbeiter in Deutschland aus. [14] Doppelt so viel wie Schor für Arbeiter in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts angibt und immer noch fast ein Drittel über den höchsten Schätzungen der OECD für die gesamte vorindustrielle Periode.


Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass um 1870 in Deutschland nur ein Drittel aller Beschäftigten in der Industrie und im Handwerk tätig sind. [35] Die eben genannten Arbeitszeiten betreffen somit nicht umgehend alle Arbeitenden, weil der Großteil sich noch in der Landwirtschaft verdient macht. Jedoch steigt der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Handwerk kontinuierlich in allen Ländern, die sich industrialisieren. Und es treten große Unterschiede in den Beschäftigungsstrukturen der Länder auf. 1930 waren mehr als doppelt so viele Menschen in den nicht-industrialisierten Ländern landwirtschaftlich betätigt, wie in den stark industrialisierten. Der Unterschied lag einer Studie zufolge bei 36% zu 77%. [32]


Während der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sinkt und in anderen Bereichen steigt, sinken auch die Arbeitszeiten. So dass um 1930 „Our World in Data“, bereits ein Absinken um über 1000 Stunden auf 2128 Stunden pro Jahr vermerkt. Juliet Schor schreibt zu diesem arbeitszeitlichen Sturzflug prägnant: „Laut dem Oxford-Professor James E. Thorold Rogers [36] betrug der mittelalterliche Arbeitstag nicht mehr als acht Stunden. Der Arbeiter, der sich an den Acht-Stunden-Bewegungen des späten neunzehnten Jahrhunderts beteiligte, war "einfach bestrebt, das wiederzuerlangen, was sein Vorfahr vor vier oder fünf Jahrhunderten gearbeitet hat".“ [15]


Es ist anzunehmen, dass die extremen Arbeitszeiten zu Beginn der Industrialisierung eine erhebliche, aber begrenzte Zahl von Arbeitern betrafen. Diese wurden durch verschiedene Maßnahmen und das grassierende Elend, den Pauperismus, genötigt, unter erheblich schlechteren Arbeitsbedingungen in den Fabriken zu arbeiten, als sie in der Landwirtschaft der vorherigen Jahrhunderte verbreitet waren. [37]


Zusätzlich zur gewaltigen Explosion der Arbeitszeit in der Industrie änderte sich jedoch vor allem das Arbeitsmuster drastisch und überträgt sich auf andere Bereiche. In den vorhergehenden Zeiträumen war Arbeit auf konkrete Aufgaben gerichtet. Das Wesen dieser Aufgabenorientierung beschreibt der Historiker E. P. Thompson wie folgt:

„Erstens ist sie [die Aufgabenorientierung] in gewisser Weise menschlich verständlicher als die zeitlich begrenzte Arbeit. Der Bauer oder Arbeiter scheint sich um das zu kümmern, was eine beobachtete Notwendigkeit ist. Zweitens scheint in einer Gemeinschaft, in der Aufgabenorientierung üblich ist, die Abgrenzung zwischen "Arbeit" und "Leben" am geringsten zu sein. Soziale Beziehungen und Arbeit sind miteinander verwoben - die Länge des Arbeitstages richtet sich nach der Aufgabe, und es besteht kein großes Gefühl des Konflikts zwischen Arbeit und "Zeitvertreib". Drittens erscheint den Menschen, die an Arbeit nach der Uhr gewöhnt sind, diese Einstellung zur Arbeit als verschwenderisch und ohne Dringlichkeit.“ [38]


Mit der Industrialisierung wird die Arbeit vorrangig „nach der Uhr" strukturiert. Die Arbeitszeit wird präzise in Stunden ausgedrückt und an ein konkretes Beschäftigungsverhältnis geknüpft. Dies ist, was wir bereits als neues „Zeitbewusstsein“ beschrieben haben und was bis heute unser Verständnis von Arbeitszeiten prägt. [18]


Moderne Arbeitszeiten


Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts reduzierte sich die Arbeitszeit für Industriearbeiter auf ihr heutiges Niveau. Gleichzeitig sank der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft und es fand statt, was ich als „Standardisierung der Arbeitszeiten“ bezeichnen möchte. Damit meine ich, dass wir heute, ganz gleich in welcher Branche, ähnliche Arbeitsstunden und Rahmenbedingungen kennen. Arbeit muss in Europa vertraglich geregelt werden und unterliegt Tarifverträgen und Arbeitszeitgesetzen. Sklaverei und Zwangsarbeit, die wir in diesen Ausführungen bisher sträflich vernachlässigt haben, sind international geächtet.

In Deutschland liegen wir heute im Schnitt bei Vollzeit-Kräften um die 1600 Stunden pro Jahr und bei Teilzeitkräften bei 750. [39] Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten lag dabei 2022 um die 30% [40] so dass wir insgesamt auf ca. 1350 Stunden pro Jahr und Beschäftigen kommen. [41] In diesen Jahresarbeitszeiten sind die arbeitsfreien Tage bereits enthalten – Urlaubstage, Feiertage, Krankheitstage und sogar Streiktage.


Was nicht enthalten ist sind Pendelzeiten, die in Deutschland pro Arbeitstag im Schnitt knapp eine Stunde ausmachen [42] sowie unbezahlte Sorgearbeit, die sich in Deutschland laut Hans-Böckler-Stiftung im Durchschnitt mit 2 bis 3 Stunden pro Wochentag verbuchen lässt, aber stark nach Geschlecht, Lebenssituation und Alter variiert. [43]


Überblick


Tragen wir die aufgeschlüsselten Arbeitszeiten abschließend zusammen und ziehen Bilanz.


Für diesen Überblick greifen wir dabei lose auf eine Tabelle der zitierten OECD-Studie zurück, die sich beruhigender Weise mit den hier zusammengetragenen Ergebnissen deckt: [44]


Jäger und Sammler [300.000 bis ca. 12.000 v.Chr.]

3-8 Stunden pro Tag. Lässiger Umgang mit der Arbeit, kaum Unterscheidung zwischen Arbeit und Nichtarbeit, lange Arbeitspausen.


Ackerbau [ab 12000 v.Chr.]

Arbeitszeiten sehr unterschiedlich, [jedoch tendenziell mehr als zu Zeiten der Jäger und Sammler]; ~250 Arbeitstage pro Jahr, ganztägige Arbeit, abhängig von der Jahreszeit.


Vor-industriell [13. bis 18. Jhr.] [45] 10-12 Stunden pro Tag, 150-200 Arbeitstage pro Jahr. Ganztägige Arbeit, viele Tage ohne Arbeit.

Industrialisierung [18 – Anfang/Mitte 20 Jhr.] 10-12 Stunden pro Tag/ ca. 300 Arbeitstage pro Jahr (60-80 Stundenwoche)

Ganztägig, kaum Tage ohne Arbeit.


Industrialisiert [Anfang/Mitte 20 Jhr. – bis heute]

8 Stunden pro Tag, 40-48-Stunden-Woche, bezahlter Urlaub / Begrenzter Tag, klare Vorstellung von "freier Zeit", Freizeit und Urlaub.


Zusammenfassung


Eingestiegen in diese Untersuchung sind wir mit der Frage, ob die modernen Arbeitszeiten eine Spitze im Verlauf der Menschheitsgeschichte darstellen. Bezogen auf die Arbeitszeiten der Industrialisierung lässt sich diese Frage für die Fabrikarbeiter und die in dieser Zeit entstehenden modernen Arbeitsverhältnisse klar bejahen. Juliet Schors These hält: Nie wurde abseits von Zwangsarbeit und Sklaverei von einer breiten Bevölkerungsschicht so viel gearbeitet, wie zu Beginn der Industrialisierung. Die folgende Absenkung der Arbeitszeiten auf ihr heutiges Niveau stellt damit keinen nie dagewesenen Fortschritt, sondern eher eine arbeitszeitgeschichtliche Normalisierung dar.


Es ist also keine ausgemachte Sache, dass wir heutige weniger arbeiten als unsere mit Stock und Stein bewaffneten Vorfahren. Es ist streitbar, dass wir weniger knuffen als die neuzeitlichen Bauern, die ihren Pflug mit Muskelkraft durch den Acker zogen. Aller technologischen Fortschritte zum Trotz, ist die Arbeitszeit in der Moderne nicht eingebrochen, sondern hat sich nach den Anfängen der Industrialisierung lediglich wieder normalisiert. Was nicht heißen soll, dass ich mit einem Bauern aus dem 15. Jahrhundert oder seinem Zugpferd tauschen wöllte.


Diese Vergleiche sind betontermaßen schwierig und ungenau. Wir müssten in Berufsgruppen und Lebensumstände, Länder und einzelne Jahrhunderte hinuntertauchen. Standardisierte Maßstäbe entwerfen und die unterschiedlichen Arbeitsmuster und Bedingungen in Betracht nehmen. Aber selbst im Angesicht dieser Ungenauigkeit, gibt mir dieser grobe Vergleich doch eine interessante Einsicht und ich hoffe, Sie können die teilen: Wir befinden uns heute, dem möglichen Bauchgefühl entgegen, nicht in einer menschheitsgeschichtlichen Utopie der Arbeitszeit. Nach wie vor sind wir gut beschäftigt. Obwohl wir heute den Lebensstandard vergangener Jahrhunderte wahrscheinlich in aus der luftgegriffenen 10 Stunden pro Woche erwirtschaften könnten.


Obendrein haben wir mit der Arbeit nach der Uhr und unserer Spezialisierung auf einzelne Tätigkeiten, Arbeitsmuster etabliert, die für den Löwenanteil der Menschheitsgeschichte undenkbar waren. Wir arbeiten heute an einer ganz genau abgesteckten Sache, in einer ganz genau abgesteckten Zeitbox. Und diese Zeitbox, ist zu allem Überfluss auch noch immer so groß, wie in jenen vergangenen Jahrtausenden, als Sache und Zeit noch nicht so genau abgesteckt wurden.


Untersuchung des ökonomischen Arguments


Zur Eröffnung dieses Abschnitts erlaube ich mir eine kleine scharfe Polemik, die wir gegen Ende dieser Ausführungen etwas glätten werden.


Es scheint ein solide erprobtes Bühnenstück einiger -nicht Aller!- Arbeitgeber, Wohlhabender, Eigentümer, allgemeiner Besitzstandsverwahrer und ihrer Handlanger zu sein, sich dem sozialen Fortschritt in wirtschaftlichen Belangen, mit Händen und Füßen entgegenzustellen. Und bei der Arbeitszeitverkürzung haben diese Damen und Herren in der historischen Rückschau wahrlich kein Päuschen eingelegt. Seit Beginn der Industrialisierung wehren sich -Einige!- dieser Leute ob aus Unkenntnis, kruder Moral oder Boshaftigkeit gegen die Arbeitszeitverkürzung. Seit sie sich wehren, wehren sie sich, ob aus ernster Sorge oder aus Fadenschein, auch mit ökonomischen Argumenten. Sie führen seit Jahrhunderten und länderübergreifend stets die Wirtschaft als Leidtragende ins Feld, wann immer jemand auf die Idee kommt, weniger arbeiten zu wollen.


Ökonomische Argumente gegen die Arbeitszeitverkürzung


Die folgenden drei Zitate, die diesen letztgenannten und äußerst beklagenswerten Zustand aufzeigen, stammen aus dem Jahr 1833 aus einem Bericht der „Factory Commission“. Diese Kommission tagte im Zuge der ersten Arbeitszeit- und Arbeitsschutzgesetze in Großbritannien, der sogenannten Factory Laws. Diese verschiedenen ab 1802 eingeführten Gesetze, beschäftigten sich zu Anfang insbesondere mit dem Arbeitsschutz von Kindern. Das Zehn-Stunden-Gesetz, um welches im Folgenden verhandelt wird, wurde vierzehn Jahre später verabschiedet und begrenzte dann die Arbeitszeit von Frauen und Jugendlichen auf zehn Stunden pro Tag an fünf Tagen in der Woche und auf acht Stunden am Samstag. [46] Bereits dieser erste Bericht einer einzigen Anhörung enthält drei interessante Spielarten des „ökonomischen Arguments“.


1. Die Bedrohung der gesamten Volkswirtschaft

„Der edle Lord Ashley (Mit-Initiator der Arbeitsschutzgesetze für Kinder) schlug [laut dem Abgeordneten George W. Wood] auf der Grundlage von […] unvollständigen und nicht schlüssigen Beweisen, [mit der Begrenzung der Kinderarbeit] eine Maßnahme vor, die in ihrer jetzigen Form die gesamte produktive Industrie des Landes um ein Sechstel reduzieren würde. […] Es war [George W. Wood] ein Anliegen, die Kinder in den Fabriken zu schützen, aber dabei sollten sie darauf achten, dass sie nicht die Manufakturen ruinierten, von denen diese Kinder für ihr Brot abhingen.“ [47]


2. Die Gefährdung von Arbeitsplätzen und einzelnen Unternehmen

“[…] die Verkürzung der Arbeitszeit würde den arbeitenden Klassen großen Schaden zufügen […] Herr Blake beschrieb, dass er mit einer Fabrik verbunden ist, in der nicht weniger als 1.700 Personen beschäftigt sind. Diese müsste ihre Türen schließen, wenn das Zehn-Stunden-Gesetz [für Kinderarbeit] angenommen wird.” [47]


3. Die Gefährdung des Wettbewerbs und die Fürsprache für die Selbstregulierung durch Unternehmen und Arbeitnehmer

„[Der Abgeordnete John Wilson-Patten] war bereit, für das Wohlergehen der in den Fabriken beschäftigten Kinder viel zu tun; aber er hielt es für ratsam, die Regelung der Arbeitszeit den Unternehmern selbst zu überlassen, die darauf bedacht waren, dass sie in dieser Hinsicht alle auf eine ähnliche Grundlage gestellt werden sollten. Gegenwärtig würden diejenigen, die die Arbeitszeit in ihren Fabriken verkürzten, im Wettbewerb gegenüber denjenigen, die die Kinder zwölf oder dreizehn Stunden beschäftigten, stark benachteiligt.“ [47]


Der Ökonom Nassau W. Senior, der als ökonomischer Berater zu Zeiten der Fabrikgesetze eine gewichtige Rolle [48] spielte, warnte 1837, dass sich die Arbeitszeiten nicht ohne Schäden reduzieren könnten, weil aller Gewinn bei gleichbleibenden Preisen nur in der letzten Stunde der Arbeit erzielt werde:


„Gemäß dem geltenden Recht darf keine Mühle, in der Personen unter achtzehn Jahren beschäftigt werden (und daher kaum eine Mühle überhaupt) mehr als […] zwölf Stunden an fünf Tagen in der Woche und neun am Samstag [arbeiten]. Die folgende Analyse wird nun zeigen, dass in einer so arbeitenden Mühle der gesamte Nettogewinn aus der letzten Stunde stammt. […] Bei einer Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde pro Tag (bei gleichbleibenden Preisen) würde der Netto-Gewinn vernichtet, bei einer Verkürzung um eineinhalb Stunden sogar der Bruttogewinn.“ [49]


Auch im folgenden Jahrhundert wurden Arbeitszeitverkürzungen von Argumenten wie diesen begleitet. So der Möbelfabrikant Charles R. Sligh um 1930 zur Einführung des Acht-Stunden-Tages in Amerika:


„Es gibt natürlich viele Branchen, in denen es praktisch unmöglich wäre, diese Zeiten [von vierzig Stunden pro Woche bzw. Acht Stunden am Tag] einzuhalten. Die Milliarden von Dollar, die in den Vereinigten Staaten in Produktionsanlagen investiert werden, können es sich aus wirtschaftlicher Sicht nicht leisten, nur vierzig Stunden pro Woche genutzt zu werden.“ [50] – heute ist der Acht-Stunden-Tag [51] und die 40-Stunden-Woche [52] praktizierter Standard in den USA.


Ein Zitat des damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt zur Einführung der 40-Stunden-Woche in Deutschland kennen wir schon aus der Einleitung, doch auch ein weiteres Zitat von ihm zur selben Thematik verspricht an dieser Stelle reiche Ernte:


„Die Gefahr besteht darin, dass wir weniger arbeiten und die Verkürzung in stärkerem Maße vornehmen als wir an Produktivität zulegen können. Und dass diejenigen, die das fordern, gleichzeitig den Schein erwecken, als ob das möglich wäre, ohne dass nicht irgendwo im volkswirtschaftlichen Verbrauch ein Loch eintritt.” [5]


Heute bläst die Kapelle rund um die Verkürzung der Arbeitswoche von 5 auf 4 Tage eine ganz ähnliche Melodie. Prof. Dr. Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft sieht darin eine Bedrohung der gesamten Volkswirtschaft:


„Das größte Problem an der Vier-Tage-Träumerei ist aber ein gesamtwirtschaftliches. Die großen Herausforderungen in der aktuellen und der kommenden Dekade sind der demografische Wandel und seine Folgen. Schon jetzt fehlen Unternehmen hunderttausende qualifizierte Fachkräfte, Tendenz steigend. […] Die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich ist eine gefährliche Utopie, die mit der gesamtwirtschaftlichen Realität nicht in Einklang zu bringen ist.“ [53]


Der Arbeitsökonom Holger Schäfer Ökonom vom selben Institut meint:


„Was passiert volkswirtschaftlich, wenn wir alle weniger arbeiten? Dann müssen wir natürlich auch in Kauf nehmen, dass wir weniger Dinge produzieren, weniger konsumieren und auch weniger verteilen können.“ [54]


Worauf Schäfer hier abhebt, wird in der Regel vereinfacht als Wohlstand bezeichnet. Und dieser Wohlstand, wird von weniger Arbeits- und mehr Freizeit gefährdet. Hierzu Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger:


„Die […] Viertagewoche [mit vollem Lohnausgleich] gefährdet unseren Wohlstand.“ [55]

Auch FDP-Vorsitzender und Finanzminister Christian Lindner hat eine Meinung:


„Es gibt weltweit und historisch keine Gesellschaft, die ihren Wohlstand dadurch erhalten hat, dass sie weniger arbeitet.“ [56]

Was für ein Wohlstand?


Das waren die ökonomischen, die wirtschaftlichen Argumente, die heute wie damals gegen Arbeitszeitverkürzung ins Feld geführt werden. Aber die Sache hat einen Haken. Der Begriff „ökonomisches Argument“ bedeutet nicht viel. Denn derartig breite, den Wohlstand benennende Argumente sind zum Ärger des gesamtdeutschen Pauschalisierungsverbands, ebenso schwammig wie schlagzeilentauglich. Sie sind komplett davon abhängig was unter Wohlstand verstanden und als Aufgabe der Ökonomie betrachtet wird. Im ersten Teil meiner Textreihe Was ist Wirtschaft? [57] habe ich auf abstrakter Ebene darzustellen versucht, warum sich solche Fragen schnell zu einer kniffligen Sache auswachsen. Hier wird es nun konkret. Wirtschaften wir, um die Gütermenge zu steigern, oder wirtschaften wir, um menschliche Bedürfnisse zu erfüllen?


Oliver Holtemöller Professor für Volkswirtschaft an der Universität Halle bringt die Sache in einem Interview mit dem MDR so auf den Punkt:

"Meint man mit Wohlstand, wie viel Geld wird materiell verdient, dann ist es natürlich so: Wenn ich weniger arbeite, dann wird bei gegebener Produktivität auch erst einmal weniger an materiellem Wohlstand generiert." Aber, [es ist] nun einmal für die Menschen eben nicht nur wichtig, wie viel Geld sie haben: "Sondern Freizeit und andere Themen wie Gesundheit spielen natürlich auch eine große Rolle. Und wenn man die bei Wohlstand mitberücksichtigt, dann mag das schon anders aussehen."“ [58]


Wir müssen die genannten „ökonomischen Argumente“ also konsequenterweise zu einem Brutto-Inlands-Produkt oder einem Gütermenge-Argument einkochen. Wobei der Begriff Güter hier Dienstleistungen als Wirtschaftsgüter miteinschließt. Ein solches Vorgehen, ist nicht unfair, denn Ökonomen wie Holger Schäfer, grenzen ihre Argumente vernünftigerweise selbst derartig ein:


„Die Kontroverse ist ja nicht so sehr, ob fünf oder vier Tage gearbeitet werden. Die Kontroverse ist: Kann ich die Arbeitszeit verkürzen und trotzdem verdienen wir alle das gleiche? Weniger Arbeitszeit heißt, es wird weniger produziert. Man könnte auch mit weniger auskommen, klar. Aber die Menge von Gütern und Dienstleistungen, die wir produzieren, definiert eben auch das, was wir umverteilen oder nutzen können. Das ist der gesamte Wohlstand der Gesellschaft.“ [54]


Derartige Argumente als Produktivitäts-Argumente zu bezeichnen, ist irreführend. Denn Produktivität ist im fachlichen Sinne schlicht das Verhältnis von Input- zu Output-Menge. [59] Wie viel gepflückte Äpfel kriege ich aus zehn Stunden Apfelernte raus? Wenn ich in dieser Zeit zehn Äpfel geerntet habe und damit einen pro Stunde, liegt meine Produktivität bei einem Apfel pro Stunde. Die Experten kennen das als 1/ApS. Wenn ich nun statt 10 nur 8 Stunden arbeite, aber weiterhin im selben Tempo pflücke, bleibe ich bei 1/ApS. An meiner Produktivität hat sich damit nichts geändert. Deshalb ist die Bezeichnung „Gütermengen-Argument“ hier die Zutreffende. Um Produktivität kann es nicht gehen. Derartige Argumente sagen schlicht: Wir können nicht weniger arbeiten, weil wir dann weniger Dinge haben. Stimmt das?


Historisches Verhältnis von Arbeitszeitreduktion und Gütermenge


Mit dem oben angeführten Ausspruch: „Es gibt weltweit und historisch keine Gesellschaft, die ihren Wohlstand dadurch erhalten hat, dass sie weniger arbeitet.“ [56] behält Christian Lindner auf ganzer Linie recht. Tatsächlich haben Gesellschaften seit der Industrialisierung mit weniger Arbeit ihren Wohlstand nicht erhalten – sie haben ihn gesteigert. Wir konnten mehr Dinge haben und gleichzeitig weniger arbeiten. Dieser verblüffende Umstand wird in einer von vielen Datenpunkten gezierten Grafik aus der schon genannten OECD-Studie How was Life? anschaulich zum Ausdruck gebracht. In der Grafik wird die Wirtschaftsleistung verschiedener Länder mit deren Arbeitsstunden pro Jahr in Zusammenhang gesetzt. Tendenz: Mit steigender Wirtschaftsleistung sinkt die Arbeitszeit. [60] Um diesen Umstand zu erklären, müsste man sich nun mit Ökonomie beschäftigen. Doch das soll heute nicht unsere Aufgabe sein. Wir sind hier um die monumentalen Zahlengebirge, der entsprechenden Statistiken für Deutschland zu bewundern.


Laut der Webseite Our World in Data reduzierte sich die Arbeitszeit in Deutschland zwischen 1950 und 2022 um etwa 45% von 2427 Stunden pro Arbeiter und Jahr auf die heutigen 1350 Stunden. [14] Gleichzeitig verzwölffachte sich das Brutto-Inlands-Produkt in Internationalen Dollar von 360 Millionen auf 4.28 Billionen. [61] Die Bevölkerung wuchs im selben Zeitraum jedoch nur von 70 Millionen auf 84 Millionen, also um ein Fünftel. [62] Von 1991 bis 2022 stieg die Anzahl der Erwerbstätigen hierzulande von 39 auf 46 Millionen. Gleichzeitig jedoch stagnierte die Anzahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden aufgrund der sinkenden Arbeitszeiten pro Jahr um die 60 Milliarden. [63] Das Brutto-Inlands-Produkt wuchs davon ungerührt von 2,3 auf 3,5 Billionen Euro. [64] Auch international zeigt weisen Länder mit hoher Wirtschaftsleistung, in der Tendenz deutlich geringere Jahresarbeitszeiten auf, wie die nun in diesem Text fast schon abgegriffene Webseite Our World in Data darstellt. [65]


Wie man es auch dreht und wendet - Arbeitszeitkürzung und Wirtschaftswachstum standen in der Vergangenheit in keinem Widerspruch zueinander. Was nicht heißen soll, dass wir morgen alle zehn Stunden arbeiten könnten, und das Brutto-Inlands-Produkt würde platzen.


Für die Vergangenheit könnte man also tatsächlich meinen, das Gütermengen-Argument habe den Ausschlag für die Verkürzung der Arbeitszeiten gegeben. Aber wie uns die hier vorgebrachten Zitate vermuten lassen, wurde diese Entwicklung von den ökonomisch-dominierenden Zeitgenossen mehrheitlich nicht so vorausgesehen. Ganz im Gegenteil: Man war überzeugt davon, dass die Gütermenge sinkt, wenn die Arbeitszeiten schrumpfen.


Befürworter der Arbeitszeitverkürzung


Freilich sahen im Laufe der Geschichte nicht alle wirtschaftlichen Akteure in der Arbeitszeitreduktion eine Bedrohung – womit wir die Polemik vom Anfang nun etwas glätten wollen. Die zwei prominentesten Beispiele sind Henry Ford und Robert Owen. Beide Männer lebten und wirkten in unterschiedlichen Jahrhunderten und Ländern. Ford zwischen 1863 und 1947 in Amerika und Robert Owen zwischen 1771 und 1858 in einer frühen Phase der Industrialisierung in Großbritannien.


Beginnen wir der Chronologie folgend bei Robert Owen. Owen betrieb und besaß Anteile an verschiedenen Baumwollspinnereien. Er war jedoch nicht nur ein an seinem wirtschaftlichen Erfolg interessierter Unternehmer, sondern ist heute vor allem als Sozialreformer bekannt. Er warb durch Maßnahmen in seinen Betrieben und durch verschiedene Projekte, öffentliche Schriften und Forderungen für eine andere Gesellschaft und wirtschaftliche Organisation. [66] Ein besonderes Anliegen war ihm die Arbeitszeitreduktion. Er war ein früher Fürsprecher des Acht-Stunden-Tages. 1833 schrieb er:


„Acht Stunden Arbeit pro Tag sind für jeden Menschen ausreichend und reichen aus, um sich ausreichend zu ernähren, zu kleiden und zu beherbergen, d.h. das Lebensnotwendige und die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen und in der übrigen Zeit hat jeder Mensch ein Recht auf Bildung, Erholung und Schlaf.“ [67]


Robert Owen hielt den Acht-Stunden-Tag entsprechend für tauglich, eine Gütermenge zu produzieren, welche die Bedarfe der Menschen deckt und sah darin keine Bedrohung des Wohlstands.


Auch für Henry Ford war die Arbeitszeitverkürzung ein zentrales Anliegen und keine pauschale Bedrohung. Henry Ford gründete und leitete die Automarke Ford Motors. Er gilt als Vater des massentauglichen Automobils und Wegbereiter der industriellen Fließbandarbeit. [68] In der Arbeitszeitverkürzung erkannte er betriebswirtschaftliche Vorteile:


„Als Teil einer kostengünstigen Produktion - und nur eine kostengünstige Produktion kann hohe Löhne zahlen - muss man große Investitionen in Maschinen und Kraftwerke tätigen. Teure Werkzeuge können nicht untätig bleiben. [Diese Werkzeuge] sollten vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten, aber hier kommt das menschliche Element ins Spiel, denn obwohl viele Männer gerne die ganze Nacht arbeiten und einen Teil des Tages frei haben, arbeiten sie dabei nicht so gut und daher ist es nicht wirtschaftlich, oder zumindest ist das unsere Erfahrung, die vollen vierundzwanzig Stunden durchzuarbeiten.“ [69]


Er betonte jedoch auch Vorteile der Arbeitszeitreduktion für die Volkswirtschaft:

„Je härter wir das Wirtschaftsleben unter Zeitdruck setzen, desto effizienter wird es. Je mehr gut bezahlte Freizeit die Arbeiter bekommen, desto größer werden ihre Bedürfnisse. Diese Wünsche werden bald zu Bedürfnissen. Ein gut geführtes Unternehmen zahlt hohe Löhne und verkauft zu niedrigen Preisen. Ihre Arbeiter haben die Freizeit, das Leben zu genießen, und das nötige Kleingeld, um diesen Genuss zu finanzieren. Die Industrie dieses Landes könnte nicht lange existieren, wenn die Fabriken generell zum Zehnstundentag zurückkehren würden, weil die Menschen keine Zeit hätten, die produzierten Waren zu konsumieren. [...] So wie der Achtstundentag uns den Weg zum Wohlstand eröffnet hat, so wird die Fünf-Tage-Woche uns den Weg zu einem noch größeren Wohlstand öffnen. Natürlich hat der kürzere Tag und die kürzere Woche auch eine humanitäre Seite, aber wenn man sich auf diese Seite konzentriert, kann man sich in Schwierigkeiten bringen, denn dann wird die Freizeit vor die Arbeit gestellt, anstatt hinter die Arbeit - wo sie hingehört. [69]


Somit warnte er davor, die Arbeitszeiten beliebig zu reduzieren und sprach sich für eine Kopplung von Produktivität und Arbeitszeitreduktion aus:

„Vor zwanzig Jahren hätte die Einführung des Achtstundentages im Allgemeinen zu Armut und nicht zu Wohlstand geführt. Vor fünf Jahren hätte die Einführung der Fünf-Tage-Woche das gleiche Ergebnis gehabt. Die Arbeitszeiten werden durch die Organisation der Arbeit geregelt und durch nichts anderes. [...] Weitere Fortschritte auf diesem Gebiet haben es möglich gemacht, die Fünftagewoche einzuführen. Die Entwicklung war ein natürlicher Prozess. […] Das heutige Gesetz über den Achtstundentag bestätigt nur, was die Industrie bereits entdeckt hatte. Wäre es anders, würde das Gesetz zu Armut statt zu Reichtum führen. Einem Mann kann kein Lohn gezahlt werden, der über seine Produktion hinausgeht.“ [69]


Diese zwei prominenten Beispiele von Owen und Ford, sollen illustrieren, dass es zu stumpf wäre, allen oben verschmähten Arbeitgebern, Wohlhabenden, Eigentümern, allgemeinen Besitzstandsverwahreren und ihren Handlangern eine generelle Ablehnung gegenüber der Arbeitszeitverkürzung zu unterstellen. Heute [70] wie damals erkannten einzelne Unternehmer ob aus ideellen oder sachlichen Gründen, den Mehrwert der Arbeitszeitreduktion und reduzierten ihre Arbeitszeiten bei gleichbleibender Bezahlung.


Doch spielten diese Stimmen die entscheidende Rolle für die Arbeitszeitreduktion seit der Industrialisierung? Aus den vorliegenden Ausführungen ergibt sich ein anderes Bild. Owen und Ford gaben ein Solo. Der Chor der mächtigen Wirtschaftsvertreter und ökonomischen Wissenschaft hingegen, sang ein Klagelied auf die Arbeitszeitreduktion. Seit jeher waren sie skeptisch und verneinend, wenn jemand weniger arbeiten wollte. Sie schrien diesen Jemand nieder, mit ihren ökonomischen Argumenten - ihrem Pochen auf die Gütermenge. Und doch verkürzten sich die Arbeitszeiten. Wie dieses Wunder geschah, ist Inhalt des nächsten Abschnitts.


Untersuchung bestehender Arbeitszeitverkürzungen


Werfen wir nun einen Blick auf die Geschichte konkreter und heute wirksamer Arbeitszeitverkürzungen und ihrer treibenden Kräfte, um herauszufinden, wie es dazu kam, dass sich die Arbeitszeiten auf ihr heutiges Niveau reduzierten.


8-Stunden-Tag


Die Durchsetzung des 8-Stunden-Tages geht vorrangig auf Aktivitäten der nationalen und internationalen Arbeiterbewegungen zurück [71]. Er ist eine alte Forderung dieser Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen - bereits auf ihrem ersten Kongress in Genf forderte die Internationale Arbeiterassoziation 1866 den Acht-Stunden-Tag. [72] Die Forderung wurde dabei international von dem Slogan getragen: „Acht Stunden Freizeit – Acht Stunden Arbeit – Acht Stunden Ruhe“ [73] Ein Slogan, der den Wunsch nach mehr Freizeit und Erholung zum Ausdruck brachte und damit die Gründe für die geforderte Arbeitszeitverkürzung direkt benannte.


Dabei folgte die Etablierung des Acht-Stunden-Tages vielerorts einem zweistufigen Muster. Im ersten Schritt bauten Gewerkschaften und Arbeiterbewegung Druck auf. Sie erwirkten dabei zum Teil für ihre Branchen und Unternehmen wirksame 8-Stunden-Tarife. Im zweiten Schritt erfolgte als Antwort auf den Druck aus der Arbeiterschaft eine allgemeingültige politische Regulierung. So wurde beispielsweise in Deutschland nach Ende des ersten Weltkriegs 1918 im Rahmen des Stinnes-Legien-Pakt der Acht-Stunden-Tag eingeführt. Die Gewerkschaften erkannten in diesem Pakt die freie Unternehmerwirtschaft an. Und „[erteilten] der [von] politischen Linken wie dem Spartakusbund geforderten Vergesellschaftung der Produktionsmittel nach sowjetischem Vorbild […] eine Absage“ – wie Arnulf Scriba für das Deutsche Historisches Museum in Berlin schreibt. [74] Dafür bekamen die Gewerkschaften den allgemeingültigen und gesetzlich verankerten Acht-Stunden-Tag und weitere Zugeständnisse.


Der deutsche Historiker und marxistische Politiker Arthur Rosenberg bringt diesen Vorgang in seinem Buch „Geschichte der Weimarer Republik“ wie folgt auf den Punkt: „Die Großindustriellen waren in schwerster Sorge vor einer kommenden Sozialisierung […] Sie waren zu allem bereit, wenn sie nur ihr Eigentum behielten.“ [75]


Der Acht-Stunden-Tag ist aber auch außerhalb Deutschlands primär das Ergebnis langjähriger Anstrengungen der Arbeiterbewegung, welche diesen auch dort nicht aus ökonomischem Kalkül, sondern um der Sache selbst Willen forderte. Der Historiker Gary Cross schreibt:


„Die trois-huits, die gleichmäßige Aufteilung des Tages in Arbeit, Ruhe und Freizeit, […] wurde [für viele Arbeiter] erst […] von 1917-19 Realität. Während Lenins Traum von der Weltrevolution scheiterte, setzte sich der Achtstundentag in ganz Europa durch, da Regierungen und Arbeitgeber den erschöpften und manchmal militanten Völkern diese wichtige Reform zugestanden. […] Diese Forderung war Ausdruck des wachsenden Wunsches der Bevölkerung nach einer von der Arbeit befreiten Zeit, die für neue Freizeitmöglichkeiten und für die aufkommende Wertschätzung der Familie zur Verfügung stand. […] Der Achtstundentag war nicht nur ein Symbol der Zweiten Internationale [ein internationaler Zusammenschluss von Arbeiterorganisationen], sondern auch ein länderübergreifendes Ziel der Arbeitnehmer und der Reformer in einer sich entwickelnden Weltwirtschaft, in der der Wettbewerb eine Verbesserung des Arbeitsstandards auf nationaler Ebene blockierte.“ [76]


Wochenende


Das Wochenende ist neben der Begrenzung der täglichen Arbeitsstunden die wirksamste Arbeitszeitreduktion, da es für die Mehrheit der Arbeitenden die Woche von sieben auf fünf Tage begrenzt. Obgleich diese Begrenzung nicht für alle Berufe gilt und für den Sonntag stärker als für den Samstag.


Sonntag


Die Niederlegung der Arbeit am Sonntag entstammt der christlichen Tradition. So heißt es in der Bibel: „Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und all deine Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun”. [77]


Aufbauend auf diesem Gebot, erklärte der christliche römische Kaiser Konstantin im Jahr 321 den Sonntag zum Ruhetag und ähnliches geschah in anderen Ländern mit christlichen Herrschern und Mehrheiten. Diese Regel, setzte sich im Mittelalter aus religiösen Gründen fort, wurde allerdings später durch die französische und russische Revolution in Frage gestellt. [78] Im Laufe des 19. Jahrhunderts spielten dann für den Erhalt des Sonntags soziale und politische Gründe eine verstärkte Rolle [79], so dass die Weimarer Verfassung 1919 festlegte: “Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.” [80] Daran hat sich bis heute nichts geändert.


Samstag


In Deutschland ist die Unterscheidung zwischen Sonntag und Samstag vor dem Hintergrund der Arbeitszeitbegrenzung besonders relevant, da der Samstag juristisch als Werktag gilt. [81] Er ist nicht aus religiösen Gründen werkfrei wie etwa in Israel, wo er aufgrund der jüdischen Schabbat-Tradition als gesetzlicher Ruhetag festgeschrieben ist. Und dennoch arbeiteten laut statistischem Bundesamt 2021 lediglich 16,1% der deutschen Arbeitnehmer am Samstag. [82] Der maßgebliche Grund hierfür ist das Engagement der Gewerkschaften seit den 50er Jahren für einen zweiten freien Wochentag. Unter dem Motto: „Samstag gehört der Vati mir“ begannen die deutschen Gewerkschaften sich etwa 1956 [83] aktiv für eine Fünf-Tage-Woche einzusetzen. [5]


Die Meinung des damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt dazu hörten wir nun bereits zweimal– er warnte damals vor Einbrüchen der Wirtschaft. [9] Doch auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bedachte wirtschaftliche Fragen. Kam jedoch zu einem gänzlich anderen Ergebnis als der Wirtschaftsminister, wie aus einem nachträglichen Bericht der Kommission für das Aktionsprogramm des DGB rund um die Fünf-Tage-Woche aus dem Jahr 1959 deutlich wird:


“Als die Gewerkschaften die Einführung der 40-Stunden-Woche forderten, waren sie überzeugt, dass die Verkürzung der Arbeitszeit, entgegen der Prophezeiungen der Unternehmer, keinen Rückgang der Produktion zur Folge haben wird.” [84]


Doch auch wenn die Gewerkschaften ebenfalls mit ökonomischen Argumenten hantierten, begründeten sie ihre Forderung nach einer Fünf-Tage-Woche in ihrem Aktionsprogramm von 1954 doch vor allem wie folgt: “Die Produktionsmethoden und Arbeitsbedingungen verursachen erhebliche körperliche Schäden. Zur Auffrischung der erschöpften Kräfte reichen die Ruhezeiten nicht mehr aus. Die soziale und sittliche Grundlage des Familienlebens ist gefährdet.” [5]


Urlaub


Aktuell gilt in Deutschland ein gesetzlicher Mindesturlaub von 24 Werktagen pro Jahr. [85] Da in der gesetzlichen Regelung allerdings vom Samstag als Werktag ausgegangen wird, gelten bei einer 5-Tage-Woche 20 Tage pro Jahr. Die tatsächlich genommenen bezahlten und unbezahlten Urlaubstage betrugen 2021 insgesamt 31,1. [86] Und laut statistischem Bundesamt hatten “[i]n den meisten Wirtschaftsabschnitten [...] Vollzeitkräfte 2018 einen [bezahlten] Ur­laubs­an­spruch von mindestens 28 Tagen.” [87]


Die Ursache für den Unterschied zwischen gesetzlichem und statistischem Urlaubsanspruch aber auch für die Einführung des gesetzlichen Mindestanspruchs überhaupt, finden sich abermals im gewerkschaftlichen Engagement. [88] Hierzu schreibt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: “Die erste tarifvertragliche Urlaubsregelung erstreitet [...] im Jahre 1903 in Stuttgart und in Thüringen der Zentralverband deutscher Brauereiarbeiter: drei freie Tage im Jahr. Bewegung in Richtung Tarifurlaub gab es auch bei den Gemeinde- und den Staatsarbeitern, den Buchdruckern, den Transportarbeitern, den Eisenbahnern. Und 1907 forderte der Buchdrucker Ludwig Rexhäuser erstmals an prominenter Stelle, nämlich im „Correspondenzblatt“ der Gewerkschaften: „Erholungsurlaub für Arbeiter!“”[89]


Darüber hinaus wurden die Gesetze zur Regelung des gesetzlichen Mindestanspruch erst nach den Erfolgen der Gewerkschaften erlassen. So äußerte der SPD-Abgeordnete Emanuel Wurm am 28.02.1912 im Reichstag: „Man darf heute das Wort aussprechen, das vor Jahrzehnten noch mit einem Hohngelächter aufgenommen worden ist: Wir verlangen, dass die Arbeiter Ferien bekommen, Urlaub mit voller Zahlung des Lohns.“ [89] Dieser Wandel wurde von Gewerkschaften herbeigeführt.


In der Bundesrepublik regelte erst das 1963 erlassene Bundesurlaubsgesetz den gesetzlichen Mindestanspruch auf Urlaub auf das heutige Niveau. Zu dieser Zeit bestanden jedoch bereits zahlreiche Tarifverträge, welche den Anspruch auf Urlaub für viele Arbeiter garantierten. Seine Forderungen nach Urlaub begründete der DGB in dem schon erwähnten Bericht von 1959 wie folgt: “Ziel der gewerkschaftlichen Bestrebungen ist ein zusammenhängender Jahresurlaub von 4 Wochen, wie er von der medizinischen Wissenschaft heute allgemein als notwendig zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Arbeitskraft angesehen wird.” [84]


Heute handeln Gewerkschaften wie die IG Metall in ihren Tarifverträgen übergesetzliche 30 Tage Urlaubsanspruch [90] aus und erhöhen damit weiterhin den durchschnittlichen Urlaubsanspruch pro Arbeitnehmer.


Feiertage


In Deutschland gibt es je nach Bundesland zwischen 10 und 12 werkfreie Feiertage. [91] Die Regelung der Feiertage obliegt dabei den Bundesländern. Der Tag der deutschen Einheit wurde jedoch im Einigungsvertrag zum nationalen Feiertag erhoben und acht weitere Feiertage sind durch alle Länder bundesweit geschützt, so dass insgesamt 9 Feiertage bundesweit bestehen. [92] Da an werkfreien Feiertagen der Arbeitgeber zur Fortzahlung des Gehalts gesetzlich verpflichtet ist, [93] können Feiertage uneingeschränkt als Arbeitszeitreduktion angesehen werden.


Die Gründe für die Arbeitszeitreduktion durch Feiertage sind jeweils in den Gründen für die einzelnen Feiertage zu finden. Dabei handelt es sich bei den bundesweit einheitlichen Feiertagen im Wesentlichen um religiöse Gründe. Die religiös begründeten Feiertage sind Karfreitag, Ostermontag, Neujahr, Christi Himmelfahrt, Pfingstmontag sowie der erste und zweite Weihnachtsfeiertag. All diese Feiertage haben ihre Wurzeln mindestens anteilig in christlichem Brauchtum. Die nicht-religiösen Feiertage sind der 1. Mai und der Tag der deutschen Einheit. Der Tag der deutschen Einheit wurde wie erwähnt 1990 mit dem Einigungsvertrag zum Feiertag erhoben, um der deutschen Einheit zugedenken und diese zu feiern. Der 1. Mai wiederum geht auf Ereignisse um den 1. Mai 1886 in Chicago zurück. Dort streikten die Gewerkschaften zu dieser Zeit für die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden. Im Laufe dieser zunächst friedlichen Proteste, starben nach einem Bombenwurf Arbeiter und Polizisten. Gewerkschaftsführer wurden anschließend verhaftet und exekutiert. Diese Ereignisse begründeten die Tradition der internationalen Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse zu begehen. Woraufhin der Tag sich allmählich als gesetzlicher Feiertag etablierte. Erstmalig wurde er in Deutschland im Jahr 1919, hier allerdings zunächst nur für ein Jahr, gesetzlich verankert. [94]


Zusammenfassung


Wie wir gesehen haben spielten Gütermengen-Argumente, also Argumente, die darauf abzielten, die Produktion oder das Bruttoinlandsprodukt zu steigern, für die Einführung der benannten historischen und heute gültigen Arbeitszeitreduktionen eine untergeordnete Rolle. Wenn sie eine Rolle spielten, dann insofern, als dass z.B. die Gewerkschaften dafür argumentierten, dass die Arbeiter sich im Urlaub und über den Sonntag hinweg erholen müssen, um ihre volle Arbeitskraft einsetzen und langfristig erhalten zu können. Solche Argumente finden sich auch für den 8-Stunden-Tag oder die 5-Tage-Woche, wo die Forderung nach mehr Zeit für Erholung ebenfalls auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auf den Erhalt der Produktivität verweist.


Insgesamt war die Motivation hinter den bestehenden Arbeitszeitreduktion jedoch religiöser oder sozialer Natur. Dabei sind die meisten Arbeitszeitreduktionen nicht religiös, sondern sozial begründet und wurden von einer organisierten Arbeiterschaft vorangetrieben, welche schlicht und ergreifend weniger arbeiten und mehr Zeit für andere Dinge haben wollte.


Fazit


Für das Nachdenken über die 4-Tage-Woche und die Arbeitszeitverkürzung allgemein können wir aus den hier dargestellten Quellen und Ausführungen schlussendlich Folgendes kristallisieren:


Im menschheitsgeschichtlichen Vergleich sind die modernen Arbeitszeiten alles andere als kurz. Insbesondere wenn wir Sorgearbeiten und Pendelzeit mit einbeziehen, kann schwerlich behauptet werden, dass wir gemessen am reinen Zeitvolumen heute in Europa weniger arbeiten als im Mittelalter, der Antike oder der Jäger-Sammler-Zeit. Im Gegenteil: Die menschheitsgeschichtliche Spitze der Arbeitszeit liegt zu Beginn der Industrialisierung. Aller Technologie zum Trotz sind wir nach wie vor gut beschäftigt. Gerade außerhalb Deutschlands, wo die Jahresarbeitszeiten mehrheitlich deutlich über den Hiesigen liegen, kann davon ausgegangen werden, dass die Menschen mehr arbeiten als ihre frühzeitlichen und mittelalterlichen Vorfahren.


Die heute relevanten Arbeitszeitverkürzungen wurden nicht aus ökonomischer Sinnhaftigkeit, sondern aus politischem Willen und somit dem blanken Wunsch nach geringeren Arbeitszeiten folgend erstritten. Im Wesentlichen waren es die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit, welche die heute wirksamen Arbeitszeitverkürzungen durchsetzten. Sie taten dies, weil sie es so wollten und weil es ohne existenzielle materielle Einschnitte möglich war. Fraglich bleibt, ob sie damit nur einen Raum füllten, der sich durch die gestiegene und stetig weiter steigende Produktivität ergab oder ob sie auch dann eine Reduktion der Arbeitszeiten durchgesetzt hätten, wenn dies die gesamtgesellschaftlich verfügbare Gütermenge merklich reduziert hätte.


Die ökonomischen Argumente, die heute wie damals gegen eine Arbeitszeitverkürzung angeführt werden, sind keine Produktivitäts- sondern Gütermengen-Argumente. Es wird argumentiert, dass wir, wenn wir weniger arbeiten, weniger Dinge und Dienstleistungen haben. Im historischen Rückblick verlieren diese Argumente jeden Halt: Die Gütermenge stieg seit der Industrialisierung massiv, obwohl sich die Arbeitszeiten stark reduzierten. Der Grund hierfür war der enorme Anstieg der Produktivität pro geleisteter Arbeitsstunde. Wir schafften mehr, in kürzerer Zeit.


Wo ein Gütermengen-Argument vorgebracht wird, muss außerdem die Verteilungsfrage bedacht werden. Eine Gütermenge ist zunächst eine absolute Größe, das Gesamtergebnis einer Volkswirtschaft. Wem sie hingegen zugutekommt, steht auf einem anderen Blatt. Und so können -natürlich nur streng in der Theorie- alle viel arbeiten, damit wenige Leute sich über viele Güter freuen. Welche Rolle eine zusätzliche Ausweitung der Gütermenge in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften überhaupt noch für unseren Wohlstand und unser Lebensglück spielt, ist dabei streitbar und aufgrund eines unklaren Wohlstandsbegriffs Ansichtssache.


Final kommen damit rund um die Arbeitszeitverkürzung elementare Fragen aufs Tableau: Was ist Wohlstand? Wonach streben wir als Menschen und als Gesellschaft? Arbeitszeitverkürzung wird zu einer Frage des Willens und der Machtverhältnisse und Güterverteilung in einer Gesellschaft. Wollen wir mehr Zeit oder mehr Dinge? Akzeptieren wir einen Teil unserer Lebenszeit für den Erhalt einer kleinen Klasse überdurchschnittlich begüterter Menschen herzugeben oder sind wir willens uns diesen Zeitvampiren entgegenzustellen? Koppeln wir die Entwicklung der Arbeitszeiten an die Entwicklung der Produktivität oder nehmen wir gar eine gesamtgesellschaftlich geringe Gütermenge, in Kauf, um mehr Zeit zu haben?


Wofür auch immer wir uns entscheiden - wir können uns entscheiden. Die Zukunft der Arbeitszeit liegt in unseren Händen so wie sie es schon immer tat.


Quellen und Anmerkungen:


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